Sonntag, 26. Oktober 2008

Migrantenkinder schnuppern Uniluft


Türkischer Verein an der TU Berlin hilft auf dem Weg zum Abitur

Es ist zwei Minuten vor sechs, als Fadil Aslan das Gebäude am Ernst-Reuter-Platz betritt. Jetzt aber schnell in den zweiten Stock, denn der Zwölfjährige will nicht zu spät kommen. Er hat bereits sechs Schulstunden auf dem Gottfried-Keller-Gymnasium hinter sich. Trotzdem kommt er jeden Mittwoch Abend an die TU Berlin zum Büffeln. Er sagt: „Die Lehrer hier sind lockerer, wir sind auch viel weniger Schüler in der Klasse, und man kann mehr Fragen stellen. Außerdem sprechen sie meine Sprache.“ Fadil Aslan nimmt Ergänzungsunterricht beim türkischen Akademikerverein BTBTM.

In dem Verein sind Studenten unterschiedlicher Herkunft, darunter angehende Lehrer, die an der TU Berlin studieren. Viele von ihnen sind Deutschtürken. „Sie sprechen nicht nur mehrere Sprachen, sondern verstehen auch die Mentalität anderer Kulturen“, sagt Funda Takir, Mitglied des Vereins und eine der Organisatorinnen des Projektes „Zweite Generation“. Damit will der Verein den Migrantenkindern – speziell Gymnasiasten – in sieben Fächern helfen.

Im Jahr 2006 bescheinigte die Pisa-Studie dem deutschen Schulsystem, dass es die Kinder von Migranten nur mangelhaft integriert. Deutschland gehört zu den Staaten, in denen die Leistungsunterschiede zwischen Schülern mit Migrationshintergrund und einheimischen Schülern am stärksten ausgeprägt sind.

Auch eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bestätigt diese Einschätzung: Jeder dritte Migrant in Berlin ist erwerbslos. Mehr als 40 Prozent sind von Sozialleistungen abhängig. Generell ist in den deutschen Großstädten die Arbeitslosigkeit unter den Migranten doppelt so hoch wie in der übrigen Bevölkerung. Ursache für ihre schlechten Chancen ist vor allem ihre ungenügende berufliche Qualifikation. Besonders betroffen sind türkischstämmige Jugendliche. Drei von vier Türken in Berlin haben keinen Schulabschluss.

Der türkische Akademikerverein an der TU Berlin erkannte die Defizite für Schüler nichtdeutscher Herkunft bereits vor Jahrzehnten. Mit dem Projekt „Zweite Generation“ gewann er 1992 eine Ausschreibung des Berliner Senats. Seither wird es vom Berliner Migrationsbeauftragten subventioniert. Dieses Geld allein reicht nicht aus, deshalb müssen die Schüler 35 Euro pro Halbjahr zahlen. Aufgrund von Kürzungen sind die Subventionen immer geringer geworden. In ehrenamtlicher Arbeit organisieren und koordinieren die Mitglieder des Vereins das Projekt.

Funda Takir erinnert sich an ihre Zeit, als sie als Schülerin an dem Projekt teilnahm: „Ich muss zugeben, ich stand damals in Mathe sehr schlecht. Ich dachte immer, ich sei zu dumm dafür“, erzählt sie. „Mit dem Ergänzungsunterricht habe ich mich innerhalb weniger Wochen um zwei Noten verbessert. An der TU Berlin wurde mein mathematisches Talent erkannt und gefördert. Jetzt studiere ich hier Mathematik und unterrichte selbst.“

Rund 200 Schüler nehmen derzeit an dem Unterricht teil, statt abends vor dem Fernseher zu sitzen. Die Studenten geben nicht einfach nur Nachhilfe, vielmehr wird der Schulunterricht ergänzt. Die künftigen Lehrer richten ihr Programm nach dem Berliner Rahmenplan und stützen sich dabei auf pädagogische Konzepte.

Auch die Studenten profitieren vom Ergänzungsunterricht. An der Universität werde zu wenig Unterrichtspraxis vermittelt, berichten sie. Hier könne man sich ausprobieren. Im April 2007 gewann das Projekt einen Preis für ziviles Engagement. Im Dezember 2007 verlieh Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister von Berlin, dem Verein die „Berliner Tulpe für deutsch-türkischen Gemeinsinn“. „Wir haben uns sehr über diese Preise gefreut und hoffen, dass unser Modell Nachahmer findet“, sagt Takir. Vanessa Bohórquez Klinger

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 25.10.2008)



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