Freitag, 12. September 2008

Lehrer lassen arme Kinder zu selten ans Gymnasium


Von Christoph Titz und Jochen Leffers

Die Unterschichtsbremse für die Oberschulen greift höchst zuverlässig: Viertklässler aus armen Familien bekommen viel seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium als Kinder betuchter Eltern - bei gleichen Noten. Eine Wiesbadener Studie offenbart, wie ungerecht Lehrer entscheiden.


Zum Ende der Grundschulzeit gibt es eine folgenschwere Entscheidung: Die Wege der Viertklässler trennen sich, die Lehrer empfehlen, wer künftig das Gymnasium, die Real- oder Hauptschule besuchen soll. Das soll der Klassenleiter nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden - streng nach Noten und Eignung des Kindes. Soweit die Theorie.

Und die Praxis? Die sieht ganz anders aus. Eine Studie der Mainzer Gutenberg-Universität bestätigt nun, worauf Bildungsexperten seit Jahren hinweisen: Aufs Gymnasium schaffen es in erster Linie die Privilegierten, nämlich Kinder gut betuchter Akademiker. Schüler aus einer niedrigen sozialen Schicht haben weitaus schlechtere Karten beim Schulübergang. Und zwar auch bei gleicher Leistung.

Die Forscher vom Mainzer Institut für Soziologie sammelten Daten an allen 35 staatlichen Grundschulen in Wiesbaden, rund 2000 Schüler aus über hundert Klassen wurden befragt. Neu an der Studie ist vor allem, dass sie die Faktoren für die Schulempfehlungen in eine eindeutige Reihenfolge rückt. Demnach liegt es stark an Bildung und Sozialstatus der Eltern, ob ein Kind es aufs Gymnasium schafft oder nicht.

Soziale Herkunft entscheidet über Bildungslaufbahn
"Vor allem die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht hat Auswirkungen auf die Schulnoten der Kinder und auf den Bildungswunsch der Eltern", sagte Stefan Hradil, Soziologe und Leiter der Untersuchung, SPIEGEL ONLINE. "Der wichtigste Prediktor ist und bleibt zwar die Note. Neu ist, dass Lehrer offensichtlich schicht- und ethnienspezifische Empfehlungen aussprechen."

Dass da was schief läuft in Deutschlands Schulwesen, ist an sich nicht neu. Das frühe Sortieren und Sieben hat eine starke Tradition - Scheitern und Schule sind Zwillinge. Das Schulsystem produziert Verlierer, die sammeln sich vor allem in den Hauptschulen.

Schon die Iglu-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigte 2004, dass Kinder wohlhabender Eltern den Vorzug vor Viertklässlern aus niedrigeren Schichten bekommen. Insgesamt erhalte fast die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler nach der vierten Klasse falsche Schulempfehlungen, urteilte Bildungsexperte Wilfried Bos nach der Iglu-Veröffentlichung. Das sei ein "bildungspolitischer Skandal", weil beim Übergang zu weiterführenden Schulen eine "soziale Auslese" stattfinde. Dabei solle die Schule genau diese Differenzen ausgleichen, zürnte damals der Forscher.

Heute hält die Hälfte der Deutschen das Bildungssystem für ungerecht. Und das Beispiel Wiesbaden liefert dafür starke Indizien. Man könne die Ergebnisse nicht ohne weiteres auf ganz Deutschland übertragen, schränkt Hradil wissenschaftlich korrekt ein. Doch er geht von einer ähnlichen Situation anderswo aus: "Warum sollte es in anderen Städten in Deutschland anders sein als bei dieser Vollerhebung?"

In Zahlen wirkt das Ergebnis wie ein Zeugnis krasser Diskriminierung: Bei gleich guter Schulnote (2,0) erhielten nur drei von vier Kindern aus der niedrigsten Einkommens- und Bildungsgruppe eine Empfehlung für die höchste Schulausbildung. Dagegen sollten von den Kindern mit wohlhabenden und gebildeten Eltern 97 Prozent aufs Gymnasium - so gut wie alle also.

Oberschichtler auf der Hauptschule? Fast nie
Lässt man die Noten statistisch außen vor, zeigt sich, dass Kinder aus der Oberschicht ohnedies fast immer eine Empfehlung fürs Gymnasium erhalten: 81 Prozent aus dieser Gruppe wollten die Wiesbadener Klassenlehrer auf die höchste Schule schicken. Aus armen, bildungsfernen Familien sahen die Lehrer nur 14 Prozent der Kinder für gymnasiumstauglich an.

"In der Oberschicht kommt eine Hauptschulempfehlung nahezu nicht mehr vor", notierten die Forscher. Dass mindestens ein Elternteil das Abitur hat, ist der entscheidende Faktor dafür, ob auch der Sohn oder die Tochter aufs Gymnasium soll. "Das Einkommen der Eltern spielt zwar auch eine Rolle, noch bedeutender ist aber ihr Bildungsniveau", so Hradil.

Bemerkenswert sind auch die Wiesbadener Befunde zu Einwandererkindern. Als Schüler mit "Migrationshintergrund" stuften die Wissenschaftler alle ein, von denen mindestens ein Elternteil oder das Kind selbst nicht in Deutschland geboren wurde. Aus dieser Gruppe leben "rund 45 Prozent in Armut", bei den Grundschülern ohne Migrationshintergrund nur 17 Prozent.

Die Schulempfehlung wird fast immer Realität
Bei den Schulempfehlungen schnappte die Falle dann zu. Die Annahme, Lehrer würde Einwandererkinder schon wegen ihrer Abstammung diskriminieren, wiesen die Forscher um Hradil indes zurück. Zwar werde nur der Hälfte dieser Kinder eine gymnasiale Laufbahn vorgeschlagen (Schüler ohne Migrationshintergrund: zwei Drittel). Dieser Abstand gehe aber fast vollständig auf die schlechtere Einkommens- und Bildungsposition der Eltern zurück: "Die schlechteren Bildungschancen von Migranten sind also letztlich ein Unterschichtenphänomen", so Hradil.

Intensiv widmeten sich die Wissenschaftler auch der Notengebung. Beispiel Mathematik: Kinder aus der bildungsfernen Unterschicht sind in diesem Schlüsselfach deutlich schlechter als Oberschichtkinder, und zwar um eine ganze Notenstufe. Unterschichtsmädchen fallen hinter den höheren Töchtern sogar um 1,4 Notenstufen zurück.

Dagegen liegen Kinder mit mindestens einem ausländischen Elternteil nur um 0,2 bis 0,3 Notenstufen hinter Viertklässlern mit Eltern deutscher Herkunft. Migration allein muss demnach noch keineswegs zu schulischen Sorgen führen. Unheil droht vor allem, wenn in Familien geringe Bildung, niedriges Einkommen und ausländische Abstammung zusammenkommen - als Ursachen orten die Mainzer Forscher "unbewusste Diskriminierung durch die Klassenlehrer oder unterschiedliche Bildungswünsche der Eltern".

Nach Beginn des nächsten Schuljahres fragten die Wissenschaftler noch einmal, was aus den Empfehlungen wurde. Klares Ergebnis: Fast immer befolgen die Eltern den Rat des Klassenlehrers für die weitere Schullaufbahn - ob richtig oder falsch, die Empfehlungen setzen sich also beinahe eins zu eins durch. Damit sei auch der tatsächliche Übertritt ans Gymnasium "nicht leistungsgerecht", urteilen die Mainzer Forscher.



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